Helmut  HEINZ
Ein exemplarischer Beitrag

 

Der pädagogische Mythos des „Konkreten“ und „Abstrakten“

Eine kritische Analyse der fragwürdigen Begriffskonstrukte „konkret“ und „abstrakt“

Die analytische Betrachtung erfolgt unter dem lernprozessualen Aspekt der neuronalen Decodierung von Wahrnehmungen als Gehirnleistung!

Zusammenfassung:

Betrachtet man den subjektiven „Lern-PROZESSES“ unter neurowissenschaftlichen Aspekten, dann ist die Unterscheidung zwischen den Begriffen „konkret“ und „abstrakt“ nicht begründbar. Die Verwendung dieses oberflächlichen Plausibilitätskonstruktes führt nachweislich nicht weiter und sollte daher entsorgt werden.

Ein Blick auf die gängige Praxis: In der Literatur zur Mathematikdidaktik werden ausnahmslos „Empfehlungen“ auf Plausi-bilitätsbasis formuliert. Diese haben stets nur den Rang ungeprüfter „Meinungen“. Argumente können es also nicht sein, denn diese sind nachweispflichtig und müssen vorab als erfolgreich praktiziertes Unterrichtsverfahren nachgewiesen werden.

Die nachfolgend aufgelisteten 4 Schritte vermitteln exemlarisch den traditionellen Unterrichts-ablauf auf der Basis „vom Konkreten zum Abstrakten“: Eine unhaltbare Fiktion!

Schritt 1 „Veranschaulichung“

Die abstrakte arithmetische Operationen soll zunächst durch sog. „geeignete Materialien veranschaulicht“ werden.

Schritt 2 „Konkretes Material“

Das Arbeiten mit konkretem Material soll dem Schüler den Schritt zur formalen Abstraktion veranschaulichen. An dieser Stelle wird regelmäßig die Notwendigkeit des sog. „handlungsorientierten“ und „lebensnahen“ Unterrichts betont.

Schritt 3 „Absehen v. konkretem Material“

Der Schüler soll nach und nach lernen, vom „konkreten Material“ abzusehen.

Schritt 4 „Automatisierung“

Durch Üben auf der formal-abstrakten Ebene der Zahlen und Zahloperationen soll das Lernen schließlich automatisiert werden.

Beispiel Minusrechnen:

Schritt 1 und 2: Zunächst wird diskretem Material (z.B. Plättchen) oder mit den Cuisenairstäben „handelnd veranschaulicht“. Die Aufgabe „Fünf minus zwei“ wird „gelegt“.

---

5 Plättchen werden ausgelegt -->
Erdbeeren
A.	= 4 „anfaßbare“ Erdbeeren liegen
o o o o
Extrem  hohe
Sehr hohe
Hohe

 

Schritt 3: Der Schüler soll es sich „nur“ vorstellen u. die Aufgaben „im Kopf“ lösen. Eventuell werden noch bildhafte Darstellungen eingeschaltet.

Schritt 4: Automatisierung = Päckchenrechnen

6 - 4 =---------9 - 7 =---------5 - 4 =------usw. usw. ---------(50 „Übungen“ als Hausaufgabe)

Fazit: Udo rechnet (ersatzweise) weiterhin mit den Fingern: 10 - 3 = 8

Schon bald landet Udo in der pädagogischen Notaufnahme und wird behandelt mit der sog. „Fehleranalyse“. Er ist ein Dauernotfall. Was übrig bleibt, ist die Frage:

Haben die Begriffe „konkret“ und „abstrakt“ dem Kind genützt? Antwort: NEIN

* * *

„Was also ist nun abstrakt und was ist konkret?“

Zusammenfassung eines spannenden nächtlichen Diskurses mit 4 Personen und viel Kaffee

Zuerst stimmen alle Beteiligten völlig überein: Die Begriffe „konkret“ und „abstrakt“ scheinen eindeutig zu sein. Eine Teilnehmerin untermauert diese Feststellung mit der flopsigen Bemerkung: „Kann ich mal ein Glas Wasser haben - aber konkret bitte!“ - Allgemeine Heiterkeit.

Gesprächsrunde 1:

Nach Formulierung erster „Bauchüberlegungen“ wird nun versucht, die beiden Begriffe „abstrakt“ und „konkret“ einer genaueren Analyse zu unterziehen. Auf die Frage „Was ist konkret und was ist abstrakt?“ gibt es von verschiedenen Personen unterschiedliche Erstreaktionen.

Es werden u.a. folgende Aussagen gemacht:

Beispiel A: „Bei ´abstrakt´ denke ich an abstrakte Kunst.“

Beispiel B: „Es gibt ja abstrakte Begriffe. Gegenfrage dazu: Gibt es auch konkrete Begriffe?“

Beispiel C: „Konkretes kann man anfassen“.

Beispiel D: Unter Hinweis auf das philosophiegeleitete Höhlengleichnis wird die Frage gestellt: „Ist nun die „vorgestellte Realität“ konkret und der „Schatten der Realität“ abstrakt - oder ist es umgekehrt???“

Und schon sind wir mitten drin.

Der Autor hat mit gezielten Fragestellungen die Rolle des advocatus diaboli übernommen und beschränkte sich im wesentlichen - aber nicht ausschließlich - auf das Beispiel B (abstrakte Begriffe). Dazu soll nun eine kurze (unvollständige und ungeordnete) Auflistung diverser Fragestellungen angefügt werden:

• Ist dieser auf dem Tisch liegende APFEL eher konkret oder abstrakt?

• Ist das geschriebene WORT „Apfel“ eher konkret oder abstrakt?

• Ist das gehörte Wort „Apfel“ eher konkret oder abstrakt?

• Ist der mit geschlossenen Augen „vorgestellte“ Apfel konkret oder abstrakt?

• Ist der „Oberbegriff“ OBST eher konkret oder abstrakt?

• Ist der wahrzunehmende DUFT des Apfels eher konkret oder abstrakt?

• Ist das Wort „Freiheit“ eher konkret oder abstrakt?

• Ist das Wort „Verständnis“ eher konkret oder abstrakt?

• Ist der Satz „Der Apfel ist rund“ eher konkret oder abstrakt?

• Ist der Satz „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ abstrakt?

• Ist das an der Wand sichtbare BILD (Pferde) abstrakt oder konkret?

• Ist das FOTO selbst, das Pferde darstellt, eher konkret oder abstrakt?

• Sind die PFERDE (auf dem Foto) eher konkret oder abstrakt?

Fazit (1) nach längerer Diskussion:

Ist etwas „konkret“, wenn ich es „anfassen“ kann? Diese eher simple Sichtweise mißachtet die lernprozessualen Gegebenheiten eines lebendigen Menschen. Wahrnehmungsverarbeitung kann nur als neurogen determinierte Gehirnleistung verstanden werden. Insofern erweist sich als unmöglich, die beiden Begriffe unter didaktisch-lernprozessualen Aspekten sinnvoll voneinander abzugrenzen.

Gesprächsrunde 2:

Die Fragestellung fokussiert nun auf mathematisch-arithmetische Aspekte:

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Es wird heiß debattiert ....

Und ganz unvermittelt landen wir bei den sog. „Brunerschen Repräsentationsmodi“, die leider noch immer in völliger Verkennung lernprozessualer Hintergründe in jeder Unterrichtsstunde regelmäßig Eins-Zu-Eins wie folgt umgesetzt werden.

Gesprächsrunde 3: Die „Brunerschen Repräsentationsmodi“

1. „Enaktive Repräsentation“: Handlung/Veranschaulichung“ > „konkret“?

2. „Ikonische Repräsentation“: „Bildhafte Darstellung“ > konkret? abstrakt?

3. „Symbolische Repräsentation“: Formalschreibweise > „abstrakt“?

In der Diskussionrunde kommen erste Zweifel auf. Entspricht diese schematische Betrachtungsweise wirklich den „lern-prozessualen“ Notwendigkeiten eines „lebendigen“ (lernschwachen) Kindes?

TeilnehmerInnen der Gesprächsrunde geben mehrere Hinweise auf das verzweifelte „Bemühen“ um Rechtfertigung und Selbstentlastung seitens der sog. „pädagogischen Wissenschaft“. Dazu werden folgende typischen Zitate aus dem Bereich der Wissenschaft angeführt:

- Die Schüler „müssen lernen“, die „konkrete Ebene“ zu verlassen. Sie müssen bspw. auf die Verwendung der Finger beim Rechnen „verzichten“.

- Die Schüler müssen „viel üben“, damit (bspw. das Einmaleins) „automatisiert“ werden kann

- Das Problem der Rechenschwäche beruht auf einem „komplexen multifaktoriellen Wechselwirkungsgeflecht“.

Abschließender Kommentar eines Teilnehmers: „Aha - also nichts Genaues weiß man nicht!“

Ein anderer Ausspruch: „Ist doch klar: Alle haben Schuld - nur wir nicht!“

Ein Dritter amüsiert sich und formuliert: "Mathematikschwäche ist ja auch ein komplexes multifaktorielles Wechselwirkungsgeflecht"

Fazit (2) zu später Nachtstunde:

- Die Begriffe „abstrakt“ und „konkret“ lassen sich nicht eindeutig definieren.

- Sie können bestenfalls - sehr unscharf - „Sachverhalte“ symptomatisch beschreiben.

- Beide Begriffe sind - unter neurogenen Aspekten betrachtet - didaktisch nicht geeignet, um interne prozessual-dynamische Abläufe (hier „Lern-Prozess“) kindgerecht fassen zu können.

- Ende eines lebhaften nächtlichen Diskurses -

* * *

 

Wir kommen nun zurück zur Ausgangsfrage ...

„Das Konkrete zuerst, danach das Abstrakte?“

Dazu werden zunächst zwei Feststellungen getroffen, die als Ergebnis einer langdauernden Grundlagenforschung mit lernschwachen Schülern einer Sonderschule verstanden werden müssen.

A. Leistungsstarke Schüler brauchen KEINE sog. „Konkretisierung“

Mehr als 50% dieser leistungsstarken Grundschüler beherrschen schon die formalabstrakte Subtraktion. Sie brauchen keine „konkrete Veranschaulichung“.

Sie lernen es auch völlig unabhängig von diesem oder jenem Unterrichtsansatz. Sogar nach langwierigen Krankenhausaufenthalten sind sie erfolgreich, wenn bspw. „nur“ die Großmutter des Kindes - ohne pädagogisches Studium - mit einer beliebigen intuitiven „Naturmethode“ ein wenig „nachhilft“.

Das bedeutet jedoch auch zugleich, daß das frühzeitige „Können“ leistungsstärkerer Schüler nicht beweist, dass die Qualität des Unterrichts gut ist. Die Decodierungsfähigkeit im Hinblick auf das formale Rechnen wird also von diesen (leistungsstarken) Schülern im Regelfall auch ohne „konkrete“ Materialien problemlos und in kürzester Zeit bewältigt wird.

B. Leistungsschwache Schüler brauchen einen neuen Unterrichtsansatz

Für lernschwache Schüler gilt das oben Gesagte NICHT. Schüler, die im Regelfall schon früh in die unterste Kategorie der sog. Risikogruppe (> 25%) abgleiten, brauchen einen völlig anderen Unterrichtsansatz. Erst durch diese NEUE didaktogene Qualität des Unterrichts entscheidet sich das zukünftige Leben dieser Kinder, wodurch verhindert wird, dass in kürzester Zeit bis zu 50% lernschwache Schüler durch falschen UNTERRICHT regelrecht „produziert“ werden.

Das gilt sowohl für den Klassenunterricht als auch für die sog. „individuelle Förderung“. Letztere basiert ohnehin nicht auf einer überprüften Gesamtkonzeptionen. Der vermeintlich naheliegende Gedanke, mit Hilfe „konkreter“ Materialien auf direktem Wege und in kürzester Zeit eine sog. „Veranschaulichung“ hochgradig abstrakter arithmetischer Inhalte erzwingen zu können, ist nach mehreren hundert Jahren Schule als gescheitert anzusehen!

Die Zeit für ein Umdenken ist überreif. Vielleicht ist es - mehr als ein Jahrzehnt nach PISA - sogar schon viel zu spät. Umsteuerungsprozesse dieses Ausmaßes sind langwierig, weil sie mehrere Institutionen betreffen:

- Erstens betrifft dies die Universitäten. Nachweislich existiert keine Grundlagenforschung zur Lernschwäche. Das Scheitern der universitären Lehrerausbildung ist zwangsläufig die Folge.

- Zweitens existiert keine lernprozessual angemessene DEFINITION von "Mathematikschwäche" (allgemein: "Lernschwäche")

- Davon ist abzuleiten, dass es keine sog. „Experten“ geben KANN, die die Bildungspolitiker fundiert beraten könnten.

- Folgerichtig kann es auch weder eine kompetente Lehrerausbildung geben. Das gleiche gilt für sog. Fortbildungsmaßnahmen.

Was also ist nun „konkret“ zu tun?

Diese Frage läßt sich nicht mit einem Satz beantworten. Es sei denn, man bemüht die zahllosen ungeprüften Plausibilitäten, die 80 MILLIONEN potentieller Bildungsexperten täglich mit inbrünstiger Lust predigen.

Der Verfasser schließt sich diesem begriffsgefluteten Mainstream also nicht an.

Er wird auch nicht der Versuchung erliegen, einen potentiellen Fragesteller mit dem berüchtigten „einen kurzen Satz“ zu bedienen. Der Verfasser beruft sich stattdessen auf eine mehr als 10-jährige Grundlagenforschung gemeinsam mit lernschwachen Schülern einer Sonderschule. Die Ergebnisse sind außerordentlich umfangreich. Sie wurden auch langfristig unterrichtspraktisch überprüft. Selbstverständlich schließt die wissenschaftliche Studie auch die Definition des Begriffs der „Mathematikschwäche“ ein. Ohne diese lernprozessrelevante (!) Definition wäre zugleich jede kausaldiagnostische Aussage absolut unmöglich. Der sog. „individuelle Förderplan“ verkommt mangels Begründbarkeit ohnehin zur Makulatur, weil ein substantiell tragfähiger KLASSENUNTERRICHT tatsächlich ALLE Schüler zum gewünschten Ziel bringen kann.

Nach den vorangegangenen Ausführungen zum Aspekt des „Konkreten“ und „Abstrakten“ soll allerdings den Leserinnen und Lesern an dieser Stelle eine (bei weitem unvollständige) Beantwortung in Kurzform nicht vorenthalten bleiben.

Nachfolgend also ein informeller Blitz-Exkurs:

Grundüberlegung:

Sowohl das eher „Konkrete“ (Apfel, Tisch, Musik) als auch das eher „Abstrakte“ (8 - 3 = , Begriffe „Liebe“ und „Freiheit“ usw.) muß über gehirnseitige Wahrnehmungs-Verarbeitungs-Funktionen entschlüsselt ( = decodiert) werden. Kurz gefaßt: Ausnahmslos alles muß decodiert werden. Nur nach erfolgreicher (!) Decodierung können wir sagen, daß wir etwas „verstanden“ haben.

Schlußfolgerungen:

1. Wenn Menschen manchmal bestimmte Dinge nicht entschlüsseln können, reicht folgerichtig ihre Decodierungsfähigkeit in diesem Falle nicht aus. Ein Vorgang, ein Sachverhalt oder eine simple Rechenaufgabe wird also nicht „verstanden“. Decodierung bezieht sich nicht auf die Organe („Auge“ oder „Ohr“ usw.), sondern stets ausschließlich auf die Gehirnleistung.

2. Bei den sog. lernschwachen Schülern verhält es sich prinzipiell genau so. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Die Leistungsbandbreite der Decodierungsfähigkeit ist generell extrem eingeschränkt. Dabei sind keinesfalls nur die sog. „abstrakten“ Sachverhalte betroffen. In besonderer Weise sind - ausnahmslos - viele Bereiche beeinträchtigt, die wir - nach „altem“ Verständnis - den sog. „konkreten“ Sachverhalten zuzuordnen gewöhnt sind.

3. Konsequenz: Bei der sog. „Rechenschwäche“ und selbstverständlich auch bei der Leseschwäche handelt es sich nachweislich NICHT um eine fachbezogene sog. „Teilleistungsschwäche“

4. Weitere Konsequenz auf der Basis der hier durchgeführten Langzeitstudie: Die sog. „Rechenschwäche“ ist eindeutig KEINE Krankheit! Grund: Die Decodierungsschwäche kann nachweislich durch geeignete Maßnahmen weitestgehend behoben werden!

Kurzzusammenfassung der Ergebnisse der KIDStudie:

* * *

Schlußanmerkungen

Es soll noch in aller Kürze der Begriff „Decodierung“ exemplarisch mit „konkretem“ Inhalt gefüllt werden. Der Begriff ist nicht nur ein „neues“ Wort.

Wenn die Tatsache akzeptiert wird, dass das „Lernen“, das “Verstehen“, das „Begreifen“ jeweils immer eine Gehirnleistung beinhalten muss, dann können die aufmerksamen LeserInnen auch nachvollziehen, dass für die Decodierung prinzipiell gilt: Es gibt Decodierungsstufen mit unterschiedlich hohem Schwierigkeitsgrad. Diese Abstufung ist über mehrere Jahre hinweg empirisch ermittelt worden. Die anwesenden lernschwachen Schülerinnen und Schüler bildeten jeweils das Referenzkriterium. Anders formuliert: Ohne die „Schüler-Experten“ wäre die Grundlagenforschung nicht möglich gewesen. Das beweist einmal mehr, dass sich jede seriöse Forschung mit dem „lebendigen“ Forschungsgegenstand KIND langfristig befassen muss, wenn tragfähige Ergebnisse erzielt werden sollen.

Konstruktbasierte Denkwelten, die ausschließlich auf subjektiven Virtualisierungen (Scheinwelten) basieren, reichen bei weitem nicht aus.

* * *

 

Technischer Hinweis: Die Filme setzen die Installation von QuickTime voraus.

Direkter Link für QuickTIME 7.7.4 (XP bzw. Win 7) - kostenloser Reader.

Die kostenpflichtige PRO-Version ist NICHT erforderlich.

http://www.chip.de/downloads/Apple-QuickTime_12999337.html

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